Der letzte Wildschütz des Eggewaldes

von A. Gembris, Paderborn

Hermann Klostermann -
noch heute ist bei den Bewohnern des südlichen Eggegebirges, des Sintfeldes und des östlichen Sauerlandes die Erinnerung wach an diesen unstäten Waldläufer und verwegenen Wildschützen, dessen Leben und Taten der immer geschäftige Volksmund mit einem sonderbaren Aufputz von Dichtungen und Wahrheit umkleidet hat. Zwar gibt es da oben in den Bergdörfern noch manche Betagte, die Klostermann persönlich gekannt haben und allerlei von ihm zu berichten wissen; wie er auf heimlichen Pürschgange dem Hochwilde nachgestellt, die wackeren Forstmänner übertölpelt und genasführt, Frauen und Kindern bei Holz- und Beerensuchen geholfen und manchem armen Teufel nächtlicherweise eine satte Rehkeule vor's Haus gebracht hat. Allein alles das sind nur zusammenhanglose Einzelheiten von mehr oder weniger sagenhaftem Gepräge. Zuverlässige Nachrichten über Klostermann haben sich, wie es scheint, im Volke nur in schwachen Umrissen erhalten, und so will es uns schicklich bedünken, wenn wir der Egge - Nummer des Heimatborn in knappen Zügen ein Lebensbild des berüchtigten Wilderers einfügen, wie es s. Zt. die Gerichtsverhandlungen zutage gefördert haben. 
Klostermanns Wiege stand auf kurmärkischem Sande, im Dorfe Renzin, wo er i. J. 1837 geboren wurde. Seine Mutter, die ihren Gatten früh verlor, übersiedelte mit ihrem Söhnchen nach Westfalen und verheiratete sich alsbald mit dem Forstbeamten Dalchoer
[Dalchow] in Scherfede. Hier, inmitten der Berge und Wälder, wuchs Herrmann Klostermann in völliger Ungebundenheit auf. Schon früh zeigte er eine besondere Vorliebe für Büchse und Weidwerk, aber auch eine ebenso große Abneigung gegen jede regelmäßige Beschäftigung. Unwiderstehlich fühlte er sich von dem grünen Waldreviere angezogen, das bald sein ständiger Aufenthalt ward und dem er nur durch seinen Eintritt in das Heer i. J. 1857 entrückt wurde. Die strenge Zucht und der pünktliche Dienst sagten dem an Ungebundenheit gewöhnten Klostermann nur wenig zu, und so konnte es nicht ausbleiben, dass er mit den Strafbestimmungen oft unangenehme Bekanntschaft machte. Er war daher herzlich froh, als er den Soldatenrock wieder ausziehen und in seine Heimat zurückkehren konnte. Vorübergehend wandte er sich dem Bergischen zu, der Drang zum Weidwerk trieb ihn wieder in die heimatlichen Waldreviere zurück. Einige Jahre hielt er sich in Westheim und Umgegend auf, bis er i. J. 1864 einem festen Wohnsitz gänzlich entsagte, sich fast ausschließlich in den Bergen und Wäldern aufhielt und sich nur selten in der menschlichen Gesellschaft sehen ließ. Da er die Zuneigung der Bevölkerung der ganzen Gegend besaß, so wurde es ihm leicht Unterhalt und Fortkommen zu finden. Er galt als zugänglicher, gutmütiger und freigebiger Mensch, und war nicht nur ein leidenschaftlicher Jäger, sondern auch ein treffsicherer Schütze. Nach seiner eigenen Angabe hat er während er die Wälder durchstreifte, nahezu 400 Stück Rehwild geschossen; er war imstande einer fliegenden Taube die Kugel durch den Kopf zu jagen. sämtliche Förster der Umgegend kannten und bewunderten die Sicherheit seiner Büchse. Persönlich machte Klostermann einen vorteilhaften Eindruck. Er besaß ebenmäßigen, kräftigen Körperbau von mittlerer Größe und ein scharfes, feuriges Auge. Waren es nun seine persönlichen Eigenschaften oder war es sein schweifend - romantisches Leben, was ihm die besondere Zuneigung des schönen Geschlechts sicherte - genug, bei den Frauen und Mädchen war Klostermann gern gelitten und den Gerichtsverhandlungen wohnten viele den besten Kreisen angehörende Damen bei, die ihrer Parteinahme für Klostermann freimütig Ausdruck gaben.
Jahre waren vergangen, ohne das Klostermann einen Zusammenstoß mit einem Forstbeamten gehabt hätte. Erst am 1. Oktober 1867 ereignete sich ein solcher. In der Abenddämmerung dieses Tages wurde Klostermann im Blankenroder Walde von dem Hardehäuser Oberförster Frhrn. von Wrede überrascht, der zu Pferde war. Auf dem Anruf des Oberförsters "Halt, wer da?" antwortete Klostermann "Wilddieb, fort oder ich schieße." Ohne sich an diese Drohung zu kehren, wollte der Oberförster auf Klostermann lossprengen, als ihn ein Schuss vom Pferde warf. Er war in der Nähe des Knies getroffen. Während der Oberförster sich bemühte, sein Pferd wieder zu besteigen, war Klostermann im hohen Walde verschwunden. Genau vier Monate später, am 1. Februar 1868 ereignete sich auf waldeckischem Gebiete ein ähnlicher Fall. Kurz nach drei Uhr nachmittags hörte der Forstbeamte Heinemann im sog. braunen Walde zwei Schüsse fallen. In Begleitung von zwei in der Nähe beschäftigten Forstarbeitern, der Gebrüder Beneke, ging Heinemann in der Schussrichtung vor. Alle drei nahmen den Weg zum Orpetale und stellten sich in einer kleinen Tannenschonung des Rhoder Waldes auf. Wenige Minuten nur und Klostermann, auf dem Rücken einen erlegten Rehbock tragend, trat hervor. Auf Anordnung Heinemanns ging der eine Beneke dem Wilderer entgegen. Sobald ihn Klostermann erblickte, legte er sein Gewehr auf ihn an. Beneke wollte auf ihn zuspringen, als Klostermann rief:" Sie haben ihren Buddel fallen lassen." Jener, ohne den Inhalt der Worte zu überdenken, bückte sich. In diesem Augenblicke feuerte Klostermann auf den im Tannengehölze stehenden Heinemann und traf ihn in den linken Oberarm und in die Lunge. Heinemann stürzte zusammen, während Klostermann unter Preisgabe seiner Beute blitzschnell verschwand. Der lebensgefährlich Verwundete genas nach längerer Zeit und konnte in den Gerichts-Verhandlungen anwesend sein.
Nach solchen Ereignissen sahen sich die Behörden veranlasst, ausgedehnte Maßregeln zu ergreifen. Sämtliche Polizei- und Forstbeamte der Gegend wurden aufgeboten. In der Nacht vom 4. zum 5. Februar überraschten sie Klostermann in einem Hause zu Fürstenberg. Klostermann aber entwischte seinen Verfolgern und entkam neckend in den Wald. Die preußische und die waldeckische Regierung setzten Belohnungen von 300 bis 400 Talern auf die Ergreifung Klostermanns aus; eine Abteilung der Bückeburger Jäger wurde in die Gegend entsandt, in der sich Klostermann vorzugsweise aufhielt, der Polizei-Inspektor Schnepel aus Minden begab sich selbst an Ort und Stelle und suchte sich unter der Maske eines Holzhändlers aus Bremen das Vertrauen der Bevölkerung zu erwerben - alles vergeblich.
Eines Nachmittags, als die Soldaten plötzlich in Westheim einrückten, fiel sogleich ein Signalschuss, ein sicheres Zeichen für die Anwesenheit Klostermanns in Westheim. Man suchte ihn wie eine Stecknadel - vergebens. Hierüber erzählte Klostermann in der Gerichtsverhandlung folgendes:" Als ich den Signalschuss gehört hatte, lief ich aus dem Hause, in dem ich mich befand, in den anstoßenden Garten, um mir ein Versteck zu suchen. Ein junges Mädchen kam mir nach und zeigte mir eine leere Kalkgrube. Ich setzte mich hinein und das Mädchen legte nun einige Bretter darüber, die es sorgfältig mit Unkraut und Gras bedeckte." So war Klostermann mit Hilfe weiblicher List seinen Häschern entgangen. Wieder waren mehrere Monate verstrichen Klostermann schaltete noch immer frei und ungehindert in den Waldrevieren. Er wurde bald hier, bald da gesehen, aber er wusste sich jeder Gefahr zu entziehen. Nun beschloss man ihn einzukesseln. Zu diesem Zwecke wurde ein Wiesental der Orpe, seiner reichlichen Aesung wegen ein Lieblingsplatz des Hochwildes, heimlich mit einer Postenkette umstellt, bestehend aus einer Jäger-Abteilung und einigen Förstern. Die Posten bezogen jeden Morgen früh bestimmte Standplätze. Am 24. Mai 1868, kurz nach Eintreffen der Posten, fielen in der Ferne mehrere Schüsse. Es währte nicht lange, so erschien Klostermann mit einem Wilderer namens Lohoff aus Oesdorf in der besetzten Wiese. Durch ein Geräusch stutzig gemacht, merkten sie bald, dass sie umzingelt werden sollten und eilten nun dem nahen Waldsaume zu. Von den ihnen nachgesandten Schüssen traf kein einziger. Nachdem die beiden Wilderer am Waldsaum Deckung gewonnen hatten, fiel auch von ihrer Seite ein Schuss, den die Posten mit einem langsamen Schützenfeuer beantworteten. Lohoff stürzte mit einem Aufschrei zu Boden, worauf Klostermann eiligst in das Dickicht verschwand. Lohoff verschied schon nach zwei Stunden. Sein Gehwehr lag geladen neben ihm, wonach anzunehmen war, dass Klostermann den Schuss auf die Posten angegeben hatte.
Groß war das Erstaunen über das abermalige Entkommen Klostermanns, dessen Festname geradezu unmöglich schien, umsomehr, als er, wie aus verschiedenen Anzeichen zu schließen war, seine bisherigen Jagdgründe verlassen und sich in das benachbarte Sauerland verzogen hatte.
Mittlerweile war es der Polizeibehörde in Brilon bekannt geworden, dass Klostermann hin und wieder bei dem Büchsenmacher Lutter daselbst verkehre. Allein alle Beobachtungen wollten zu keinem Ergebnis führen. Da klopfte es in der Nacht vom 13. zum 14. Juni leise an das Kammerfenster des Polizeibeamten Aust. Er öffnete und hörte eine Frauenstimme raunen:" Er ist da." Aust bezog dies sofort auf Klostermann und begab sich eilends nach dem Wohnhaus Lutters, wo er zu seinem Erstaunen das Geräusch einer Kaffeemühle vernahm. Das erregte seinen Verdacht. Er ging zurück und weckte unverzüglich noch zwei andere Polizeibeamte, mit denen er sich leise an das Lutter'sche Wohnhaus heranschlich. Sie krochen auf den Knien unter die Fenster und hielten sich dort etwa zehn Minuten ruhig auf. Plötzlich öffnete sich die Haustür und der Büchsenmacher Lutter trat heraus. Im Nu sprangen die Polizeibeamten vor und drangen, den erschrockenen Lutter beiseite schiebend, in das Haus ein, eilten spornstreichs durch die Stube in die anstoßende Kammer, und siehe da - auf dem Rande eines Bettes saß Klostermann in der rechten Hand eine Tasse Kaffee haltend, in der linken die Büchse. Die Überrumpelung war ihm derart überraschend gekommen, dabei war die Übermacht so groß, dass er bei der Enge des Zimmers weder an Flucht noch an Widerstand denken konnte. Mit Ruhe und Gelassenheit ergab er sich in sein Schicksal, er ließ sich fesseln und ins Gefängnis abführen. So wurde Klostermann, der erklärte Günstling und Liebling der Frauen, schließlich doch das Opfer eines Weiberverrats. Selten nur ist eine Schwurgerichtsverhandlung in der Bevölkerung von Stadt und Land Paderborn mit allgemeinerer Spannung erwartet und ihr Verlauf mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt worden, als die Verhandlung gegen Klostermann am 12., 13. und 14. November 1868. Seine sichere Haltung, sein gewandtes Auftreten und - sein Humor verließen ihn auch in diesen schicksalsschweren Tagen nicht. So nahm er seine Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus - der Staatsanwalt hatte zwanzig Jahre beantragt - mit der Erwiderung entgegen: in den acht Jahren werde sich das Hochwild in der Egge wohl derart vermehrt haben, dass man die Tiere nicht mehr zu schießen, sondern einfach mit Stöcken zu erlegen brauch. Er erklärte auch, und wohl der Wahrheit entsprechend, dass er niemals einen Menschen habe töten wollen, wenngleich ihm das ein Leichtes wäre, er habe, wenn ihm Gefahr drohte, seine Gegner nur höchstens kampfunfähig gemacht. So sagte er in der Verhandlung auch zu dem angeschossenen Fürsten
[Förster]: "Statt das ich Sie ins Bein schoss, hätte ich Sie auch ebenso leicht in Kopf oder Brust treffen können, dass wollte ich aber nicht." Am 20. November wurde Klostermann in das Herforder Zuchthaus abgeführt; über seinen weiteren Verbleib ist nichts Bestimmtes bekannt geworden*. Zwar hat später noch mancher auf der Wildbahn in der Egge und an der Diemel heimlicher Weise gejagt und gepirscht, keiner aber mit einer solchen Ausdauer, Leidenschaft und Verwegenheit wie Hermann Klostermann, den man füglich als den letzten Wildschützen des Eggewaldes bezeichnen darf.

*    Nachricht darüber, sowie über sonstige zuverlässige Einzelheiten aus dem Leben Klostermanns sind erwünscht. Schriftleitung.